Frühbehandlung in der Kieferorthopädie: Darunter versteht man eine Behandlung, die meist schon im frühen Grundschulalter oder sogar davor beginnt. Aber wie sinnvoll ist das, wenn im Teenageralter trotzdem nochmal eine Zahnspange notwendig werden kann? Oder ist eine feste Spange dann gar nicht mehr nötig?
Eine Zahnspange in der Grundschule oder sogar schon davor? Über den Sinn der kieferorthopädischen Frühbehandlung wurde in den letzten Jahren immer wieder diskutiert. Kritiker aus dem Gesundheitssystem und sogar einige Kieferorthopäden stellen die Wirtschaftlichkeit und den medizinischen Nutzen einer solchen Behandlung infrage. Ein beliebtes Argument: Die Behandlungsergebnisse einer Frühbehandlung seien nicht stabil, sodass im Jugendalter sowieso eine Hauptbehandlung fällig werden kann. Die Frühbehandlung würde also lediglich Kosten verursachen, ohne langfristigen Nutzen zu bieten, so die Kritiker.
Dass zusätzlich zur Frühbehandlung eine Hauptbehandlung notwendig werden kann, muss aber keineswegs bedeuten, dass die Frühbehandlung zwecklos war. Ausgeformte Zahnbögen und ästhetisch ansprechende gerade Zähne haben bei einer Frühbehandlung nämlich nicht oberste Priorität, auch wenn sie ein positiver Nebeneffekt sein können. Vielmehr dient die Frühbehandlung dazu, schädliche Langzeiteinflüsse der Zahnstellung auf das Kiefer- und Gesichtswachstum auszuschalten und so das Wachstum des Kindes schon früh in die richtige Richtung zu lenken. Eine Hauptbehandlung kann dadurch nicht immer vermieden werden, wird aber vereinfacht und oft in Umfang und Dauer erheblich reduziert.
Zu den schädlichen Einflüssen auf das Kieferwachstum zählen Angewohnheiten (Habits) wie der exzessive und langfristige Gebrauch des Schnullers und Daumenlutschen. Auch die eine Einlagerung der Unterlippe hinter die oberen Frontzähne hat einen ungünstigen Einfluss auf den sensiblen Mundraum.
Weiteres Negativum: ungünstige Muskelkräfte. Im Mundbereich bilden die Muskelkräfte von Lippen und Wangen außen und der Zungen innen ein Kräftepaar. Dazwischen befinden sich die Zähne. Ein physiologisches Kräftegleichgewicht besteht, wenn die Lippen geschlossen sind und die Zunge oben am Gaumen ist. Dann wachsen die Kiefer richtig, d.h. breit genug und alle Zähne und die Zunge haben genügend Platz.
Da Kiefer nur bis zum 9. Lebensjahr in die Breite wachsen, gilt es, dieses Wachstum rechtzeitig durch die Beeinflussung des Kräftegleichgewichtes positiv zu beeinflussen. Eine Hauptbehandlung kann dadurch nicht immer vermieden werden, aber die Extraktion von bleibenden Zähnen bei ausgeprägtem Platzmangel unnötig machen und die Weichen für eine physiologische Gebissentwicklung, Zungenlage und Atmung werden gestellt. Eine spätere Behandlung kann durch einen frühzeitigen Behandlungsbeginn vereinfacht und in Umfang und Dauer erheblich reduziert werden.
Einige stark ausgeprägte Formen von Zahn- und Kieferfehlstellungen erfordern zudem ein frühes Eingreifen, um das Fehlwachstum überhaupt kieferorthopädisch beeinflussen zu können. Das gilt vor allem für eine Progenie, also ein ausgeprägtes Unterkiefer-Wachstum. Werden solche Fehlstellungen zu spät erkannt, ist das Wachstum des Kindes für eine alleinige kieferorthopädische Behandlung schon zu weit vorangeschritten. Dann bleibt nur noch eine Operation im Erwachsenenalter.
Doch nicht nur bei starken Fehlstellungsformen ist ein frühes kieferorthopädisches Eingreifen sinnvoll. Jedes vierte Kind erlebt mindestens einmal im Leben ein sogenanntes Frontzahntrauma, also einen Sturz auf die vorderen Schneidezähne, der zur Folge haben kann, dass Zähne abbrechen oder sogar ganz verloren gehen. Das Risiko für eine solche Verletzung ist umso höher, je größer der Abstand zwischen Ober- und Unterkieferzähnen ist. Die Verletzung fällt außerdem schwerer aus, wenn die Zähne nicht gewohnheitsmäßig von den Lippen bedeckt sind. Also auch aus diesem Grund ist ein früher Behandlungsbeginn mit Herstellung eines physiologischen Muskelgleichgewichtes einschließlich Lippenschlusses sehr wichtig.
Zahnfehlstellungen hängen bei Kindern eng mit Fehlfunktion der Wangen- und Zungenmuskulatur zusammen, wie zum Beispiel einer gewohnheitsmäßig offenen Mundhaltung und einem falschen Schlucken. Ohne korrekte Funktion der Muskulatur – auch Myofunktion genannt – lässt sich langfristig keine stabile Zahnposition erreichen. Genauso ist bei bestimmten Zahn- und Kieferfehlstellungen oft keine korrekte Muskelfunktion möglich. Es empfiehlt sich daher in den meisten Fällen, nicht nur kieferorthopädisch die Zahn- und Kieferfehlstellung, sondern auch die Myofunktion zusätzlich mithilfe von Logopädie zu behandeln.
Abgesehen von einer korrekten Muskelfunktion der Gesichts- und Kaumuskulatur bringt die frühe kieferorthopädische Therapie noch weitere Vorteile: Durch das frühzeitige Einstellen eines natürlichen Bisses wird das Risiko von Fehlbelastungen einzelner Zähne oder Zahngruppen minimiert. Damit kann einer späteren CMD (Craniomandibuläre Dysfunktion) auf diese Weise vorgebeugt werden.
Außerdem lassen sich gerade Zähne leichter und gründlicher putzen. In der Folge entstehen weniger Karies, Zahnfleischentzündungen und Parodontitis. Eine aktuelle Studie weist darauf hin, dass Menschen mit einer Rücklage des Unterkiefers und mit vergrößerter Frontzahnstufe (zu großem Abstand zwischen Unter- und Oberkiefer-Frontzähnen) ein erhöhtes Kariesrisiko haben.
Und nicht zuletzt spielt auch die Ästhetik selbst eine wichtige Rolle: Eine schöne Zahnstellung, ein ausgeglichenes Profil und ein harmonischer Gesichtsaufbau haben einen unbestreitbar positiven psychologischen Effekt und bedeuten einen Zugewinn an Lebensqualität. Dennoch ist das nicht der Hauptgrund für eine kieferorthopädische Behandlung, insbesondere früh im Grundschulalter. Sie hat vielmehr einen funktionell-medizinischen Hintergrund. Denn die kieferorthopädische Frühbehandlung kann Schäden verhindern, bevor sie entstehen.
Fachzahnärzte für Kieferorthopädie sind die Spezialisten für das Kiefer- und Gesichtswachstum. Sie können schon sehr frühzeitig Fehlwachstum diagnostizieren und durch einfache Maßnahmen entgegenwirken und das Wachstum durch funktionelle kieferorthopädische Zahnspangen beeinflussen. Alle Kinder sollten deshalb im Alter von fünf bis sieben Jahren, also um den Zeitpunkt der Einschulung herum, in einer kieferorthopädischen Fachpraxis vorgestellt werden – damit Sie auch sicher nichts verpassen. Auch die gesetzliche Krankenkasse (GKV) hat erkannt, wie wichtig eine Frühbehandlung zur Vermeidung späterer komplexer kieferorthopädischer Behandlungen ist. Deshalb beteiligt sich die GKV entsprechend der kieferorthopädischen Indikationseinstufung (KIG) an den Kosten. Allerdings gibt es auch ausgeprägte Fehlstellungen und Habits, die ein frühzeitiges therapeutisches Eingreifen erforderlich machen, die von der GKV trotz medizinischer Indikation nicht übernommen werden. Eine Zusatzversicherung kann sinnvoll sein, um diese Lücke zu schließen.
Quellen: